Im Verlauf der bioevolutionären Entwicklung sind wir zu geistbegabten, kreativen Wesen geworden. Daraus resultiert unsere „Geschichte“, die Menschen (nach eigener Einschätzung) überwiegend selbst gestalten. In 32 Beiträgen setzen sich Autorinnen und Autoren aus den Disziplinen Psychologie, Geschichtswissenschaft, Soziologie und Philosophie mit diesem vielgliedrigen, von Fort- und Rückschritten geprägten Vorgang auseinander.
Dabei geht es um
(1) die Frage nach den psychischen Antriebskräften für geschichtliche Veränderungen,
(2) die Frage nach den verschiedenen Arten und Weisen des Wirksamwerdens dieser Antriebskräfte in der Geschichte und
(3) die Frage nach den Folgen geschichtlicher Veränderungen für die menschliche Psyche, für das Erleben und Verhalten der Menschen.
Deutlich zeigt sich, dass eine weiterführende Diskussion über Möglichkeiten einer besseren Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Fächern unverzichtbar ist. Im Blick auf die Forschung lassen die gewonnenen Einsichten die Gründung einer Kooperationsgemeinschaft als dringlich erscheinen.
Gerd Jüttemann (* 7. Dezember 1933) ist ein deutscher Psychologe. Er ist der Begründer der in den Sozialwissenschaften eingesetzten qualitativen Forschungsmethode "Komparative Kasuistik".
Jüttemanns Arbeitsschwerpunkte sind Autogenese- und Biographieforschung, Historische Psychologie, Persönlichkeitspsychologie sowie Qualitative Forschungsmethoden (u. a. Komparative Kasuistik). Er sieht Psychologie nicht in erster Linie als Naturwissenschaft, sondern vor allem als Humanwissenschaft. Unter Berufung auf Wilhelm Wundt betont er, "dass eine Psychologie, die die inhaltliche Seite des Seelischen ausblendet und sich auf die quantitative Erforschung funktionaler Zusammenhänge beschränkt, eine unvollständige und unvollkommene Psychologie bleiben muss, weil sie ihren wichtigsten Gegenständen ausweicht". Jüttemann ist Mitherausgeber der Zeitschriften Journal für Psychologie und "Psychologie und Geschichte" sowie der Buchreihen "Philosophie und Psychologie im Dialog" und "Psychologie und Beruf" (beide Reihen im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht). Außerdem ist er im Wissenschaftlichen Beirat des Forum Qualitative Sozialforschung [FQS] tätig.
Technische Universität Berlin
Institut für Psychologie und Arbeitswissenschaft
Sekr. MAR 3-2
Marchstraße 23
10587 Berlin
Prof. Dr. Karl Westhoff in "Report Psychologie" (März 2021): "Mit diesem Kaleidoskop brillanter Informationen wird eine Grundlage gelegt für etwas, das in den kommenden Jahrzehnten die Menschheit und die Fächer Psychologie, Geschichtswissenschaften, Soziologie, Anthropologie, Philosophie beschäftigen wird - die Frage: Wie sind wir zu dem geworden, was wir sind?"
Prof. Dr. Zitter meint:
Der Herausgeber Gerd Jüttemann verfolgt in diesem Werk mit 32 Aufsätzen von 36 Autoren die Absicht, die wissenschaftlichen Disziplinen der Psychologie und der Geschichtsschreibung einander anzunähern zum Zwecke wechselseitiger Befruchtung. Was stand einer solchen Annäherung bisher im Wege? Die Psychologie geht seit ihrer Gründung als empirische Wissenschaft im 19. Jh. den Weg der Naturwissenschaften und versucht, durch das Instrument des Experiments zu Gesetzesaussagen universeller Art zu gelangen. Das gilt insbesondere für die Allgemeine Psychologie, der Königsdisziplin innerhalb des Faches. Die viel ältere Geschichtswissenschaft dagegen orientiert sich weitgehend an der Ereignisgeschichte. Keine guten Voraussetzungen, um sich wechselseitig zur Kenntnis zu nehmen und die jeweils gewonnenen Erkenntnisse mit der anderen Seite in Bezug zu setzen. Was müsste geschehen, damit eine wechselseitige Befruchtung stattfinden kann? Die Psychologie müsste ihre Konzentration auf kulturinvaraiante Phänomene (wie den Atomen in der Physik) aufgeben und die Veränderungsmöglichkeiten ihrer Gegenstände zulassen. Die Folge wäre eine stärkere Gewichtung der Kulturpsychologie gegenüber der Allgemeinen Psychologie. Die Geschichtswissenschaft müsste stärkere Betonung auf kollektive Veränderungen des Verhaltens legen, die – statt einzelner Ereignisse – zum Explanandum würden. Für die Erklärung einzelner Handlungen einzelner Personen wie Cäsars Überquerung des Rubikon (ein Beispiel, das im Text von Werner Greve ausführliche Behandlung erfährt) waren dagegen immer schon psychologische Erklärungen in Gebrauch. Es ist somit ein Teilbereich der Psychologie, der mit einem Teilbereich der Historie in engere Beziehung gebracht werden könnte. Die Idee dazu ist nicht völlig neu. Der Psychologe (und Philosoph) Wilhelm Wundt (Gerd Jüttemann) und der Historiker Karl Lamprecht (Hiram Kümper) haben zu Beginn des 20. Jh.s wichtige Vorarbeiten geleistet, die aber nicht aufgegriffen wurden. Lamprechts These, „dass Geschichte als Wissenschaft nur Psychologie der Geschichte sein kann“ könnte als Motto über dem ganzen vorliegenden Buch stehen. Besondere Beachtung findet auch Wilhelm Dilthey (im Text von Jens Dreßler), der die Psychologie zur Grundlage der Geisteswissenschaften machen wollte. Er erkannte sehr gut die Geschichtlichkeit des Mentalen, beschränkte aber seinen verstehenden Ansatz wiederum auf konkrete, einmalige Bezüge. Kulturelle Innovationen führen zu Veränderungen kollektiver Motivationslagen. Diese führen zu veränderten kollektiven Handlungsgewohnheiten, die wiederum in kulturellen Innovationen gipfeln. Dieser unabschließbare Kreislauf erlaubt es also, geschichtliche Veränderungen mittels eines mentalen Vokabulars zu erklären. Jüttemann möchte nun darauf aufbauend an Stelle der Suche nach Gesetzen den Typus einer hermeneutisch fundierten psychologischen Erklärung entwickeln, die er „Evidente Theorie“ (S.14) nennt und vor allem in den Naturwissenschaften realisiert sieht. Ihr Kennzeichen ist, dass sie trotz fehlender empirischer Prüfverfahren schlüssig begründet werden können. Ein Beispiel einer solchen Theorie sieht er in der geologischen Annahme vom inneren Aufbau der Erde, den wir genau zu kennen beanspruchen, ohne direkte Untersuchung. Im letzten Teil des Buches werden an Gegenständen wie Spiel, Revolution, Krieg und Pandemien die Möglichkeiten solcher Theoriebildungen durchgespielt mit etwas mageren Ergebnissen. In dem von Rolf Oerter noch am überzeugendsten behandelten Thema des Spiels (S.242ff.) wird die allgemeine Kulturentwicklung daraufhin befragt, welche geistigen Fähigkeiten daran beteiligt waren. Antwort: solche, die schon im Kinderspiel vorhanden sind, wie der Entwurf alternativer Realitäten. Andere in diesem Teil angezeigte Gegenstände lassen dagegen den Bezug zur Psychologie überhaupt stark vermissen wie ein Beitrag von Michael Wettengel, der sich mit Revolutionen beschäftigt (S. 250ff.). Bleibt noch der mittlere Teil des Buches Hier wird das Werk einiger einschlägiger Autoren aus Vergangenheit und Gegenwart besprochen, die für verschiedene Fachrichtungen von der Philosophie bis zur Sprachwissenschaft stehen und einen mehr oder weniger großen Beitrag zum Annäherungsversuch zwischen Psychologie und Geschichte geleistet haben. Auffällig dabei ist einmal die Aufnahme von Steven Pinker (Fabian Hutmacher & Roland Mayrhofer, S.206ff.), der die einschlägige Problemkonstellation doch stark aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive betrachtet, aber auch die Abwesenheit von Max Weber, dessen methodologischer Individualismus gut ins Gesamtkonzept des Buches gepasst hätte und eine Unterstützung von Jüttemanns These, „ dass geschichtliche Ereignisse letzten Endes psychologischen Charakter tragen“ (S.15) bedeutet hätte. Doch diese These sowie die erwähnte These Lamprechts ist nicht ganz unproblematisch. Zwar spielt Webers methodologischer Individualismus, der alle Kollektivsubjekte, die im Explanans vorkommen, zurückführen möchte auf individuelle und psychische Bezugsgrößen noch immer eine Rolle in den sozialwissenschaftlichen Erklärungen, doch längst sind systemtheoretische Reflexionen zumindest dazugekommen, in denen Konstellationen sozialer Entitäten die Rolle mentaler Ursachen übernommen haben. Diesen Gesichtspunkt ganz vernachlässigt zu haben, ist vielleicht der größte Mangel dieses Buches.
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