Die Mordlust war so unglaublich, dass sich in den Kliniken die Hinweise und Verdachtsmomente unübersehbar häuften, doch niemand wollte oder konnte das Unfassliche wirklich glauben. Der Spitzname "Todeshögel" kursierte, die überhäufigen Reanimationen und Todesfälle in seinen Schichten wurden per Strichliste registriert. Frank Lauxtermann, derzeit Högels Kollege, erinnert sich an Verdächtigungen bei Pflegenden: "Man konnte garnicht mehr weggucken. Wenn drei Menschen in einer Nacht sterben, kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Aber die da oben haben nicht die richtigen Schlüsse gezogen. Oder wollten nicht. Oder wenn sie die richtigen Schlüsse gezogen haben, dann haben die Ärzte und der damalige Verwaltungsleiter gesagt: nein, also Anzeige machen wir auf keinen Fall, weil natürlich ist so eine Negativpresse für ein Krankenhaus schlecht ..."
Im aktuellen Gerichtsverfahren dokumentieren Pflegende und Ärzte, als Zeugen vernommen, in erster Linie Erinnerungsschwächen. Gegen viele Beschäftigte werden Anklagen vorbereitet - wegen Meineids, Tötung durch Unterlassen u.a.
Eine Krankenschwester erinnert sich vor Gericht, wie Niels Högel einem Patienten eine Injektion gab, jedoch energisch behauptete, er habe nur einen Zugang freigelegt. Högel bat die Schwester, mit ihr nebenan eine Zigarette zu rauchen. Wenige Minuten später hörten sie den Alarm und liefen in das Zimmer zurück. Der Patient starb. Auf Fragen des Richters sagt die Krankenschwester jetzt quasi entschuldigend: "Ich hatte keine Beweise. Ich hatte Angst. Ich habe den Mund gehalten." Lange sieht die Zeugin den Angeklagten im Gerichtssaal nachdenklich an. "Tut mir leid", sagt sie. Was tue ihr leid, fragt die Staatsanwältin. "Dass ihm keiner helfen konnte." Wem? "Niels".
Wolfgang Pabst: Warum ein Pfleger mehr als 100 Menschen ermorden konnte. In: Plexus 3/4-2018, S. 8-10